Freitag, 11. September 2015

Zeit für Gerechtigkeit

Foto: Peter Otten
Die Neuregelung der Eheannullierung, aber auch das Ende des Falls Tebartz-van Elst zeigt, dass die Barmherzigkeitsattitüde in der katholischen Kirche nicht die Formel für alles sein darf. Es wäre höchste Zeit für Gerechtigkeit.
 

Von Peter Otten

Der Papst hat ein Gesetz veröffentlicht, das das Verfahren zur Annullierung von Ehen in der katholischen Kirche neu regelt. Im Begriff Annullierung wird eine Form katholischer Dialektik deutlich, die in der kirchlichen Lehre häufiger anzutreffen ist. Folgendes Gedankenspiel steckt dahinter: Es möge durch ein entsprechendes Ehenichtigkeitsverfahren bewiesen werden, dass das, was für alle Beteiligten wirklich erfahrbar war, nämlich die Eheschließung zum Zeitpunkt des Zustandekommens gar nicht wirklich war, ja nicht wirklich sein konnte. Bei dieser Feststellung spielen die wirklich feststellbaren Folgen der Eheschließung (Kinder, Familie etc.) keine Rolle, entscheidend ist lediglich, ob zum Zeitpunkt der Eheschließung alle Bedingungen für ihre Gültigkeit erfüllt waren.


Das Prozessverfahren wird nun in einigen Punkten geändert, beispielsweise fällt die obligatorische Überprüfung des Urteils in einer zweiten Instanz weg. Man erhofft sich eine Kosten- und Zeitersparnis und durch das vermeintliche Absenken von psychologischen Schwellen, dass mehr Katholikinnen und Katholiken ein solches Verfahren anstreben - in Deutschland waren es 740 im Jahr 2013. Indess: Eine Revolution bedeutet das ganze nicht. Das Verfahren an sich bleibt bestehen - mit all seinen Problematiken: Nichtöffentlichkeit, weitgehende Intransparenz, Glaubwürdigkeitszeugen- und Gutachterbestellung ohne Einfluss der Klageführenden. Deswegen hat Matthias Drobinski ganz recht, wenn er schreibt: "Nach wie vor müssen die einstigen Partner glaubhaft machen, dass ihre Ehe aus Sicht des Kirchenrechts nie bestanden hat. Sie müssen nach Formfehlern bei der Trauung suchen. Sie müssen Zeugen beibringen, die erklären, dass der Mann oder die Frau schon vor der Hochzeit gesagt haben, wenig von Treue oder Kindern zu halten, egal ob's stimmt. Sie müssen Reifedefizite konstruieren, wo die Wahrheit meist einfach ist: Man hat es nach bestem Wissen und Gewissen versucht, doch es hat nicht geklappt, weil man sich auseinandergelebt, im anderen oder auch in sich selbst getäuscht hat." Für manch einen Prozessbeteiligten ist dies nicht nur eine schwierige, sondern auch eine entwürdigende, ja unbarmherzige Angelegenheit: So kann sich wohl auch ein Außenstehender vorstellen, welche Art von möglichst konkreten - intimen - Informationen sich günstig auf einen Prozessverlauf auswirken, wenn ein/e Klageführende/r beispielsweise auf Grund Kinderausschluss oder Zeugunsunfähigkeit die Ehe als nicht gültig beklagt.

Auf eine andere Problematik wies gestern Daniel Deckers hin. Einen Tag später verkündete nämlich der Vatikan eine Entscheidung in anderer Angelegenheit. Der ehemalige Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst muss aufgrund der Vorgänge rund um die Errichtung seiner Residenz auf dem Limburger Domberg keinen Schadensersatz leisten. Die Begründung ist mehr als problematisch: Kardinal Marc Ouellet habe dem Limburger Diözesanadministrator Manfred Grothe mitgeteilt, dass man es für „nicht angebracht“ halte, die Klage des Bistums auf Schadenersatz zu prüfen, geschweige denn ein kirchenrechtliches Strafverfahren zu eröffnen. Daniel Deckers kommentierte dazu am 10. September in der FAZ: "Mag auch ein Bischof bewusst wesentliche kirchenrechtliche Normen missachten, so entscheiden ein paar Kuriale im Vatikan, ob eine kirchenrechtliche Sanktion „angebracht“ ist oder nicht. Im weltlichen Recht spräche man von Strafvereitelung im Amt, wenn nicht von Rechtsbeugung. Für den Geltungsbereich des Kirchenrechts bestätigt sich am Beispiel Tebartz-van Elst eine Erfahrung, die unzählige Missbrauchsopfer gemacht haben: Selbst wo ein Kläger ist, gibt es nicht immer einen Richter. Rechtsanwendung in der Kirche war eine Frage der Opportunität und bleibt es, weil auch Papst Franziskus nicht anders denkt und handelt. Das Diktum des liberalen Katholiken Lord Acton, wonach Macht korrumpiert, absolute Macht aber absolut korrumpiert, ist heute so aktuell wie vor hundert Jahren."

Vielleicht glauben die kurialen Mitarbeiter im Vatikan sogar, sie handelten im Geist der Barmherzigkeit gegenüber einem Mitbruder, der in ihren Augen arg gebeutelt wurde. Motivatoren hierzu sind gerade genug unterwegs. Barmherzigkeit ist derzeit die Variable für alles mögliche - und spätestens hier spürt man, dass da etwas nicht stimmt. Am 8. September beginnt gar ein Heiliges Jahr, das unter das Motto der Barmherzigkeit gestellt wird. Die Änderung im Annulierungsverfahren fährt auch unter diesem Segel, so hat es der Papst betont. Aber macht dieses Allwettersegel wirklich alles besser? Im Fall Tebartz würde es um Gerechtigkeit gehen. Doch sie scheitert, weil es irgendwelche Mitarbeiter für "angebracht" halten. Was ist das eigentlich für eine Grundlage? In Daniel Deckers Kommentar klingt der wunde Punkt deutlich an, der viele Barmherzigkeitsgesten als nackte Phrasen entblößt: Solange die Gewalten in der katholischen Kirche nicht geteilt werden, ist vieles willkürlich. Ein paar Männer entscheiden, wie sie es für angebracht halten.

Auch in Fragen der Wiederheirat von Geschiedenen hilft die Barmherzigkeitsgeste wenig. Einen Weg weist der Psalmist, wenn er schreibt: "Herr, ich suche Zuflucht bei dir. Lass mich doch niemals scheitern; rette mich in deiner Gerechtigkeit! (Ps 31, 2)." Noch eindringlicher hat Arnold Stadler diesen Vers übersetzt: "Ja: auf dich habe ich gehofft / Laß mich nicht untergehen, / in alle Eweigkeit nicht. Rette mich! Bist du nicht gerecht?" Bist du nicht gerecht? Es wäre höchte Zeit für eine ehrliche Antwort darauf.

5 Kommentare:

  1. Ich finde die hier ausgeführten Gedanken schwierig, solange nicht der Begriff „Gerechtigkeit“ etwas näher bestimmt wird. Und wenn wir dann herausgearbeitet haben, wie wir als Menschen Gerechtigkeit sehen, sind wir wahrscheinlich der Frage, was wir als Gottes Gerechtigkeit empfinden noch nicht näher gekommen -- denn ich glaube, dass Gerechtigkeit auch ein sehr stark von sozialen und kulturellen Aspekten determiniert wird.

    Ist Gerechtigkeit etwas, das sich im Laufe der Zeit ändert? Ist Gerechtigkeit etwas, worauf wir Anspruch haben? Was mögen die Konsequenzen sein, wenn etwas eben nicht gerecht ist?

    Barmherzigkeit ist da in meinen Augen der viel pragmatischere, viel einfachere Begriff: Gutherzigkeit. Daraus erwachsen keine Ansprüche, aber daraus erwächst Verantwortung. Es ist eine sehr konkrete und klare Handelsanweisung im Vergleich zur Gerechtigkeit. Und mir persönlich ist es auch das, was ich einem liebenden Gott viel eher zutraue. Und vielleicht, wenn wir Gott darin ernst nehmen, dass er uns alle liebt und alle gleich liebt, und uns zu allen Barmherzig ist, haben wir auch schon einen großen Schritt darauf zugetan, eine mögliche Gerechtigkeit zu verstehen.

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  2. Mir geht es keineswegs darum, den Begriff der Barmherzigkeit zu desavouieren. Im Gegenteil: Ich finde ihn hochnotwendig. Ich gebe Ihnen Recht: Barmherzigkeit ist natürlich der weitaus pragmatischere Begriff. Darin jedoch steckt Fluch und Segen zugleich. Über den Segen sind wir uns gewiss schnell einig. Der Fluch besteht in der Willkür, der im Akt der Barmherzigkeit immer liegt. Barmherzigkeit ist das Privileg des Einzelnen, daher kann man sie dem einen gewähren, dem anderen aber nicht. Innerhalb eines Herrschaftssystems, das sich weitgehend der Kontrolle entzieht ist dies - systemisch betrachtet - eben besonders heikel.

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  3. D'accord. Ich ziehe nur aus dem Mangel an Transparenz und Kontrollmöglichkeit nicht die Schlußfolgerung, man müsse von diesem System dann Gerechtigkeit verlangen. Das greift mir definitiv deutlich zu kurz :-)

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  4. Ist Gerechtigkeit nicht ein, wenn nicht DER zentrale Gedanke in der Reich-Gottes-Verkündigung - in der Tradition der alttestamentarischen prophetischen Literatur? Ehrlich gesagt ist dies die Motivation für meine Gedanken. Und wenn das so ist, dann finde ich, dass die Kirche sich nicht nur um Gerechtigkeit nach außen, vielmehr um Gerechtigkeit nach innen mühen müsste.

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  5. Welche Form der Gerechtigkeit denn? Was bedeutete das Wort denn in der Zeit, zu der es aufgeschrieben wurde? Ich glaube nicht, dass wir dem Gedanken der Verkündigung gerecht werden, wenn wir ein Konzept des gleichen Namens, aber sehr unterschiedlicher Bedeutung haben. Denn dann wird die Botschaft beliebig: es kommt nur darauf an, eine Wortbedeutung zu finden, mit der man seine bisherige Weltsicht weiter belegen kann.

    Und: sowohl „die Letzten werden die Ersten sein“ als auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, die alle den gleichen Lohn erhalten fordern zumindest mein Verständnis von (weltlicher) Gerechtigkeit sehr heraus. Nun kann man auch da wieder sagen: göttliche Gerechtigkeit ist eine andere als die, die wir gemeinhin in der Welt so sehen. Dann ist aber auch die Argumentation, aus der Verkündigung einen Anspruch auf weltliche Gerechtigkeit abzuleiten, zusammengefallen.

    Ist es gerecht, dem Anderen Gutes angedeihen zu lassen und ihn oder sie wichtiger zu nehmen als sich selbst? Denn: es ist in meinen Augen das, wozu wir aufgefordert sind. Und das ist für mich auf jeden Fall barmherzig.

    Ich bedanke mich übrigens sehr herzlich für die sehr spannende und fordernde Diskussion. Ich bin froh darüber, dass sich ein so tolles Gespräch entwickelt hat.

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