Samstag, 4. April 2015

Der Tag, an dem wir erwachsen werden



Foto: Peter Otten
Wer vor der Gewalt und ihrem Schrecken nicht ausweicht, wird erwachsen. 

Karfreitagsgedanken von
Peter Otten


1. Der Tag der Gewalt

Heute machen Christinnen und Christen etwas Merkwürdiges. Sie erheben einen Tag zu einem Feiertag, an dem es um Gewalt geht. Um Verrat, um Folter, um ein ungerechtes Urteil, um Verhöhnung, um ein unfassbar grausames Sterben. Was gibt es an der Gewalt, an dessen Ende der Tod steht zu feiern? Ist das nicht ein zutiefst zynisches Spiel?

Wir Christen wissen, dass der Evangelist Johannes sein Evangelium und somit auch die Passion Jesu aus der Erfahrung von Ostern geschrieben hat. Die Evangelien enden mit den Geschichten, wie der Auferstandene seinen Jüngerinnen und Jüngern in ihrer tiefen Trauer und inmitten ihres Gefühl völliger Aussichtslosigkeit begegnet. Ihnen gar hinterher geht, sie dort aufsucht, wo sie das, was sie nicht erklären können zu verarbeiten versuchen. Das ist die Perspektive der Evagelisten, die sie zu unserer Perspektive machen möchten: am Ende wird alles gut; rätselhaft zwar und ein bisschen wunderlich und völlig anders als vorher, aber es wird alles gut.

Das ist die Perspektive von gläubigen Menschen, und sie kann die Menschen, die sie anzunehmen vermögen das, was wir heute gehört haben erträglich machen und trösten. Das ist nicht wenig, Erträglichkeit und Trost. Es kann die Gewalt des Karfreitags und seinen Schrecken zu einer Hoffnungsbotschaft machen. Das ist sehr viel, unerwartet viel. Aber wir sollten uns nicht vorschnell damit zufrieden geben, das Karfreitag und Ostern, die Gewalt und das Ende der Gewalt, der Schrecken und der Sieg über den Schrecken zusammen gehören. Es kann zu einer zynischen Schieflage führen: die Gewalt des Karfreitags wäre dann eine Art zu akzeptierender Bodensatz auf dem Weg in die Herrlichkeit des Osterfestes. Der Mensch bräuchte dann die Dunkelheit, das Abgründige, damit sich das Helle von ihr um so grandioser absetzen kann. Es geht am Ende gut aus. Aber rechtfertigt das Gute die Gewalt? Wir Christen glauben ja, dass mit Tod und Auferstehung die Erlösung kommt. Aber Erlösung kommt in der Spur der Gewalt daher. Darüber ist nicht leicht hinwegzugehen.

 
Denn es ist ja so: Ostern werden die Kreuze ja nicht aus unseren Kirchen weggeräumt, um sie zum nächsten Karfreitag wieder hervorzuholen. Das Kreuz weicht nicht der Osterkerze. Und wir räumen der Gewalt am Karfreitag einen ganzen Tag ein. Und eine ganze Nacht. Und dann noch die Stille eines weiteren Tages, in der das Echo der Gewalt ausklingen kann.

Das ist anstrengend, aber es ist unausweichlich – und: es ist wohl gut so. Denn auch am Karfreitag ist klar, dass mit dem Entzünden der Osterkerze die Gewalt nicht aus der Welt, aber auch nicht aus unserem Land, aus unserer Stadt, aus unserem Viertel, aus unserem Leben, auch nicht aus den Religionen, auch nicht aus dem Christentum verschwinden wird. Wir sind und bleiben umgeben von Gewalt. Sie wird bleiben. Und schon heute ist sicher, dass wir uns in einem Jahr wirder am Karfreitag treffen.

Nicht wegen Ostern ist übermorgen die Gewalt aus unserer Welt verschwunden. Sich das klar zu machen – dafür ist der Karfreitag auch da.

2. Der Tag, an dem wir die Gewalt in unsere Nähe lassen

Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine über den französischen Alpen ging eine Welle der Betroffenheit durch das ganze Land. Menschen, die mit dem Unglück nichts weiter zu tun hatten als dass sie es wie wir alle in den Nachrichten verfolgt hatten erzählten, wie sie Kerzen aufgestellt und Gebete gesprochen haben. Fassungslosigkeit und Trauer überall über diese entsetzliche, unvorstellbare Form von – ja, auch das ist Gewalt. In der analogen Welt, aber auch in der digitalen Welt des Internets. Im Internet sprach man von einer neuen „Suchbewegung“: die Gesellschaft, die digitale eben auch, sei dabei, Formen der Trauer und der Bewältigung neu zu suchen. Die Erschütterung über diesen Einbruch der Gewalt und ihres Schreckens und die Suche danach, der eigenen Erschütterung Ausdruck zu geben ist sicher darin begründet, dass sie in unsere Nähe rückt, in die Nähe unserer Psyche, geographisch in unsere Nähe, aber auch in unsere Lebenswelt: wir alle haben Kinder. Wir alle fliegen. Wir alle kennen die Alpen, waren in ihnen wandern. Die Gewalt, der Schrecken bekommt ein Gesicht. Sie ist kein Phänomen mehr, sie wird konkret, bekommt Gesicht und Namen und Geschichte und Biographie. Manchmal schützt sich unsere Psyche, wenn sie die Gewalt und ihren Schrecken verdrängt; wenn wir, ermüdet von Kriegsmeldungen und neuerlichen Bombenanschlägen im Nahen Osten Internet- und Fernsehbilder weiterklicken. Auch das ist in Ordnung. Aber manchmal verdichten sich Gewalt und Schrecken eben, einmal im Jahr bekommen sie am Karfreitag auch einen Ort in unseren Kirchen. Dieses sehr schwer erträgliche Drehbuch der Passion ist da und kommt uns sehr nahe. Denn heute wird deutlich: Es gibt nicht nur Verrat, sondern Verräter. Es gibt nicht bloß Folter, sondern ein Folteropfer und Menschen, die foltern. Es gibt nicht nur Feigheit, sondern Feiglinge. Es gibt nicht nur Sterben, sondern einen Sterbenden. Es gibt nicht nur den Tod, sondern einen Toten. Die Gewalt tritt vor unsere Augen, und wir sind ein Teil davon. Und es spricht viel dafür sich ihr zu stellen. Und das ist gut so.

3. Der Tag, an dem wir erwachsen werden

Susan Sonntag hat in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“ – einem Buch, in dem sie über Kriegsfotografie nachdenkt – Folgendes geschrieben:

„Wer eine Hölle als das bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausholen und das Höllenfeuer eindämmen kann. Trotzdem scheint es an sich schon positiv zu sein, wenn man die eigene Wahrnehmung schärft und sich immer wieder klar macht, wie viel durch menschliche Bosheit verursachtes Leid es in der Welt gibt, in der wir mit anderen leben. Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglaube) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch und psychologisch nicht erwachsen geworden.“

So betrachtet wäre der Karfreitag eine sich alljährlich wiederholende Gelegenheit, erwachsen zu werden, wenn wir hier die Gelegenheit bekommen, uns der Gewalt und ihrem Schrecken zu stellen und sie nicht zu übergehen. Nicht sofort der Versuchung zu erlegen, auf Ostern vorzuspulen in der Gewissheit: es wird ja doch alles wieder gut.


Denn: Wird es das wirklich? Für die Menschen, die vor Lampedusa auf dem Meeresgrund versinken? Für die Menschen, die im Irak, in Syrien, in Uganda getötet werden? Für die Menschen, denen das kranke Kind auf dem Schoß verstirbt? Wir haben die Hoffnung, dass es wieder gut wird. Weil wir hoffen dürfen, dass Gott gerecht ist und das dahinsiechende Kind, den ertrunkenen Flüchtling irgendwann ins Recht setzt. Aber diese Hoffnung entbindet uns nicht von der Verantwortung, mit den Menschen die Gewalt und ihren Schrecken vor Gott zu tragen und mit ihnen, oft auch anstelle von ihnen, die keine Hoffnung haben zu schreien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du sie verlassen?“ Also die Frage des heutigen Tages zu stellen, auf die es zunächst mal keine Antwort gibt, auch für Jesus am Kreuz nicht. Die Schwierigkeit des heutigen Tages lautet demnach: Den Schrecken und die Ohnmacht, die aus der Gewalt folgt auszuhalten. Die Antwortlosigkeit Gottes, die zunächst auch im heutigen Tag liegt auszuhalten.

„Lassen wir uns also von den grausigen Bildern heimsuchen“, sagt Susan Sonntag. „Auch wenn sie nur Markierungen sind und den größeren Teil der Realität, auf den sie sich beziehen, gar nicht erfassen können, kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.“ Und weiter: „Es ist nicht unbillig, Abstand zu nehmen und nachzudenken. Mehrere Philosophen haben es auf diese oder jene Weise zum Ausdruck gebracht: Niemand kann gleichzeitig nachdenken und zuschlagen.“

Karfreitag ist also der Tag, an dem wir die Bilder der Gewalt und ihren Schrecken aushalten müssen. Es geht um die Gewalt, die Menschen möglich machen. Aber auch um die Gewalt der Natur, des Lebens, der unerlösten Welt. Aber auch der Tag, an dem aber paradoxerweise gerade durch diese Nähe zum einen Erschütterung, aber eben auch Reflexion, Nachdenken, so etwas wie Emanzipation von ihr möglich wird. Karfreitag macht uns erwachsen.

In der Süddeutschen Zeitung von gestern ging es in einem Portrait über eine Kinderkrebsstation in Innsbruck auch um Gewaltbilder. Kinder verarbeiten im Spiel der Farben die Gewalt ihrer schweren Krankheit zu ihren eigenen Passionsbildern: „Ein Kind, dem ein Arm amputiert werden musste, malt Vögel nur noch mit einem Flügel. Oder man sieht einen Schmetterling, der zu schwer ist um noch einmal vom Boden abzuheben. Im Katalog zu einer Ausstellung findet man den Text eines zwölfjährigen Jungen: Die Krankheit stelle ich mir vor als dunkle Nebel, oder als ein Fegefeuer, oder wie im Urwald, oder als Monster oder als Ungeheuer. Als pechschwarze Nacht, wo man immer wieder Schreie oder Laute hört oder als bösen Menschen, der für einen Euro bereit ist zu töten, oder wie eine vereiste Stadt, ganz kalt und weiß.“ Die Kinder wenden ihren Blick nicht ab von der Gewalt. Und das verändert alles. Was verändert es denn? „Angst vor dem Sterben sei gerade bei Kindern am Ende kein Thema“, heißt es weiter in der Reportage. „Sie nehmen das Leben so wie es ist und helfen bisweilen sogar den Erwachsenen, die Wahrheit auszusprechen“, sagt die Theologin dort. „Die Herausforderung verleihe den Menschen oft eine Tiefe, die wir uns gar nicht mehr vorstellen könnten. Das sei jeweils ein Leben unter anderen Umständen, in denen sich unsere verlorenen Werte, Zusammenhalt und Mitmenschlichkeit zurückmelden.“

Karfreitag ist der Tag, an dem wir erwachsen werden. Wir bekommen zwei Tage Zeit, die Gewaltigkeit und die Gewalttätigkeit des Lebens mit ihrem Schrecken zuzulassen und ihnen gar Namen, Gestalt, ein Bild zu geben. Für die Kinder in der Kinderkrebsstation ist es der Blick auf die Passionsbilder, die aus ihren Farben entstehen. Für uns Christinnen und Christen ist das Bild der Blick auf das Kreuz, Symbol und verdichtetes Bild aller sinnlosen vorstellbaren Gewalt dieser Welt. Die Gewalt ist da, und sie hat viele Gesichter, und sie wird bleiben. Wir leugnen und verdrängen das nicht. Wir stellen uns ihr und geben ihr einen Ausdruck, wenn wir gleich das Kreuz verehren. Aber darin liegt paradoxerweise eine Chance, ein Geschenk gar: der Gewalt und ihrem Schrecken ein Gesicht zu geben, sie zu identifizieren, sie zu beschreien oder auch in ihrem Angesicht zu schweigen – das ist zugleich der Augenblick, wo sie zwar nicht ihren Schrecken, wohl aber ihre Macht verliert.

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