Freitag, 20. Juli 2012

Der Vogel

Gesa Zimmermann/pixelio.de
Prolog: Manchmal helfen bei Geschichten nur Geschichten. Das Foto in der WAZ ist übrigens auch großartig: Drei Männer und eine Problemfrau. Wie lange wird sich die Kirche derlei ernsthaft noch leisten? Wenn einem dazu nichts mehr einfällt, wenn man nicht immer dasselbe sagen will, wenn man zu müde für eine Glosse ist - dann ist es womöglich Zeit für eine Geschichte.

Der Monsignore hatte sich hingesetzt. Matt blickte er auf seinen Schreibtisch. Die Bibel war bereits aufgeschlagen. Automatisch begann er zu lesen: "Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber." Der Monsignore atmete hörbar aus, verblüfft, mit einer leichten Enervierung. Nicht schon wieder diese Geschichte. Wie oft hatte er sie herauf und hinunter bepredigt! "Die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen." Er nahm einen Stift in die Hand und blickte aus dem Fenster. Man könnte Syrien erwähnen, überlegte er. Die Finanzkrise böte sich an. Warum nicht? Da wüsste jeder, was gemeint ist, schließlich hatte jeder Geld verloren an diese ... Der Monsignore begann, auf seinen Block zu kritzeln. Was war mit dem Papst? Gewissermaßen war er doch auch "unter die Räuber gekommen", wie man so sagte, oder etwa nicht? Er schrieb langsam. "Titanic", schrieb er. "Raben" und "Vatileaks". Und "Vertrauen geraubt", "Sensationgier", "Medienhetze". Das war gut. Jetzt lief es. Aktualitätsbezug. Sehr schön! Der Monsignore schürzte zufrieden die Lippen und griff nach der Kaffeetasse.

"Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber." Hhm. Er dachte nach und blickte auf das Papstbild, dass in einem hellen Rahmen an der Wand seines Arbeitszimmers hing. Er las den Satz nochmal. Und ein drittes Mal. Das war nicht gut. Das hatte der Monsignore immer schon gedacht, jedes Mal, wenn der diesen Satz gelesen hatte. Gut war das nicht. Nein, ganz und gar nicht. Es musste Gründe gegeben haben. Vielleicht würde es sich mal lohnen, genau darüber nachzudenken. Anstatt pauschal... Der Monsignore blickte auf die Schreibtischplatte und wischte mit dem Handrücken ein paar Staubkörnchen davon. Schwierige Geschichte. "Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber." Das machte die Sache nicht einfacher. Ganz und gar nicht.

Das Klingeln seines Telefon riss den Monsignore aus seiner Versunkenheit heraus. Er legte den Stift beiseite, hob den Hörer ab und führte ihn an sein Ohr. Ruhig war die Stimme, die er vernahm, und doch verspürte er hinter ihrer Sachlichkeit eine gewisse Anspannung. Nein, die Kollegin sei nicht mehr im Dienst, genau genommen könne man gar nicht von einer Kollegin im eigentlichen Sinne, nun  ja, sprechen... Pastoralreferentin, genau. Er wiederholte das Wort. Pastoralreferentin. Nein, das sei schon ein etwas anderer Beruf als... Wie gesagt, sie sei nicht mehr... Der Monsignore runzelte die Stirn. Inzwischen war er aufgestanden. Mit Zeiger- und Mittelfinger fuhr er sich zwischen Kragen und Hals. Es werde ein bisschen dauern, bis jemand nachfolge, angespannter Stellenplan... Gut, das werde ihm jetzt in seiner Situation wohl nicht sehr... tatsächlich nicht helfen... Er verstehe seine Not, durchaus, doch... Der Monsignore blickte aus dem Fenster. Eine Vogel schien hineinzuspähen, eine Amsel vielleicht. Dann flog sie weg, und dem Monsignore fiel auf, wie unglaublich blitzschnell sie das tat. Er richtete sich auf. Ja, aus persönlichen Gründen... Das sei eine etwas einfache Sicht der Dinge, würde er meinen... Wenn eine Frau eine Frau liebe, dann... Der Monsignore blickte zu Boden. Seine Schuhe hatten auch schon Falten vom Gehen, fiel ihm auf. Natürlich sei das ein wichtiger Dienst gewesen... Es freue ihn sehr, dass man ihm die Kollegin empfohlen habe, sie sei ja auch tatsächlich... Er sehe auf der anderen Seite nicht ein, warum er sich rechtfertigen solle... Die Sache sei nun wirklich klar... Es tue ihm wirklich, wirklich leid, aber...

Der Monsignore lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Augenlider. Er würde das Fenster öffnen müssen, dachte er. Sein Kopf begann zu schmerzen. Seine Augen fielen wieder in das aufgeschlagene Buch. "Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?" Der Monsignore wusste genau, wie die Geschichte weiterging. Der die Barmherzigkeit tat, brummte er, kaum wahrnehmbar. Warum glaubten immer alle, das mit der Religion sei so einfach? Der Anrufer hatte leicht reden. Sie habe doch wohl nur einen Menschen geliebt. Was sei daran falsch? Es sei doch nicht gut, dass der Mensch allein sei, heiße es doch in seiner Bibel. Seine Bibel! Mit leicht zusammengekniffenem Blick warf der Monsignore das Buch zu.

Er strich über seine Manschetten. Die Menschen machten es sich leicht. Ein Vogel blickte durch Fenster. Eine Amsel vielleicht. Sie stand so auf dem Fenstersims, dass der Monsignore sie in seinem Blickfeld spürte. Doch als er aufsah, war sie schon fort.

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